Mit dem Mittelalter in die Zukunft - Das Naturdorf Bärnau
Ein Beitrag von Hans Kratzer
In der Oberpfalz entsteht ein Stück Mittelalter. Alfred Wolf, Leiter des Projektes „Naturdorf Bärnau“, hat dort etwas ganz Besonderes auf die Beine gestellt, denn Architekten und Archäologen arbeiten hier zusammen und errichten Gebäude mit jahrhundertealter Technik. Ihr Ziel ist allerdings ein ganz modernes.
Das Mittelalter ist so fern und doch so nah. Mit dem Auto ist es von München aus in gut zweieinhalb Stunden bequem zu erreichen. Man muss nur über die A 9 und die A 93 in die östliche Oberpfalz fahren, wo einen im Landkreis Tirschenreuth, direkt an der tschechischen Grenze, das Städtlein Bärnau empfängt. Der Ort war einst als Knopfstadt berühmt, heute kündet vor allem das Deutsche Knopfmuseum von der alten Herrlichkeit. Den Ruf der stillen Grenzstadt nährt mittlerweile weniger die Knopfindustrie als vielmehr der 2011 eröffnete Geschichtspark, in dem die Besucher in das Alltagsleben des Mittelalters eintauchen können. Und zwar so authentisch wie nur an wenigen anderen Plätzen in Deutschland.
„Wir haben völlig falsche Vorstellungen von dieser Epoche“, sagt Alfred Wolf, ein Mann, der es wissen muss. Schließlich ist er der Erfinder dieses archäologischen Freilandmuseums. Zum Ortstermin hat er zwei Begleiter mitgebracht: Stefan Wolters, den Wissenschaftlichen Leiter des Geschichtsparks, und den Architekturstudenten Julian Schönberger, der hier ein experimentelles Projekt mitbetreut, das mit Hilfe von mittelalterlichem Knowhow das moderne Bauhandwerk revolutionieren soll.
Begleitet man die drei Männer durch das gut elf Hektar große Gelände, wächst von Schritt zu Schritt das Staunen. Der Weg führt vorbei an slawischen Häusern und Gehöften, wie sie vom 8. bis zum 14. Jahrhundert gebaut wurden, aber auch an einer Turmhügelburg, einem Kalkbrennofen und einem Kultplatz. Schließlich gelangt man am südlichen Rand des Geländes zu einer experimentellen Baustelle, in der Handwerker seit 2018 allein mit den Techniken des Mittelalters eine burgähnliche Reisestation errichten. Flankiert werden diese Attraktionen von einer Dauerausstellung, einem Museumsladen, einer Werkstatt und einer Gaststätte. Dieses Mammutprojekt am Leben zu erhalten, ist für die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Trägervereins ein ständiger Kraftakt – sowohl physisch als auch finanziell. Kein Wunder, dass Wolf rückblickend feststellt: „Ich bin an meine Grenzen gestoßen.“
Der 63-jährige Alfred Wolf ist der Antreiber des Freilandmuseums. Der einstige Stadtrat und Polizeihauptkommissar hatte das Projekt als Vorsitzender des 900 Mitglieder zählenden Vereins „Via Carolina – Goldene Straße“ trotz Widerständen ins Leben gerufen. Dass Bärnau ein guter Platz dafür ist, liegt auf der Hand. Immerhin zählt es mit dem Stadtrecht von 1343 zu den ältesten Städten in Bayern. Hier führte einst die Goldene Straße zwischen den Reichsstädten Nürnberg und Prag vorbei, einer der wichtigsten Fernhandelswege im damaligen Europa. Und, auch darauf legt Wolf großen Wert: Es ist das längste archäologische Bodendenkmal nach dem Limes.
Mit finanzieller Hilfe der EU begannen im Jahr 2010 die Bauarbeiten für dieses größte mittelalterliche Freilichtmuseum in Süddeutschland. 2018 wurde ergänzend dazu das ArchaeoCentrum Bayern-Böhmen eröffnet, ein länderübergreifender Studien- und Forschungsplatz für experimentelle Archäologie, an dem auch die Universitäten Bamberg, Pilsen und Prag mitwirken.
Der Verein „Via Carolina – Goldene Straße“ hatte von Anfang an eine deutsch-tschechische Zusammenarbeit im Sinn und holte die tschechische Nachbarstadt Tachov mit ins Boot. Aber immer noch leidet dieses Vorzeigeprojekt darunter, zu wenig bekannt zu sein. „Das macht uns echt zu schaffen“, sagt Wolf. Dass schon zehn Minister auf die Schnelle vorbeigeschaut haben, half wenig. Die Besucherzahlen dürfen ruhig noch wachsen.
Das Thema Mittelalter sollte eigentlich ein Garant für Erfolg und Zuspruch sein. Scharenweise wird dieser Epoche auf Festspielen, Märkten und sonstigen Spektakeln gehuldigt. Es wird landauf landab ein Sehnsuchtsraum verklärt, den es in der Realität so gar nicht gegeben hat, wie Stefan Wolters sagt.
Der Experimentalarchäologe erforscht die Lebensbedingungen im Mittelalter, indem im Geschichtspark der Alltag so authentisch wie möglich rekonstruiert wird – vom Heizen über die Kleidung bis zum Kochen. Dabei werde zum Beispiel deutlich, wie sehr die Menschen den Launen der Natur ausgesetzt waren, sagt Wolters, hart arbeitend widersetzten sie sich dem Hunger und der Kälte, oft lebten sie am Existenzminimum.
Im Allgemeinen wissen die Besucher wenig über das Mittelalter, wie Wolf und Wolters festgestellt haben. Auf dem renaturierten Gelände und in der vorbeifließenden Waldnaab sieht man deshalb Vögel, Pflanzen und Fische, die es damals gab. Und so manche Schulklasse durfte hier schon erfahren, wie mühsam, aber auch wie bereichernd es ist, ein Butterbrot herzustellen, wenn man nur die Rohstoffe vor sich hat.
Wolfs Devise lautet: In Bärnau lernt man aus der Vergangenheit – für die Zukunft. Das gilt auch für das experimentelle Bauen, das am Rande des Geschichtsparks praktiziert wird. „Wir brauchen dringend eine Bauwende“, sagt Wolf, denn die Bauwirtschaft arbeite aktuell nicht zukunftsfähig. Er nennt das hier entstehende Naturdorf „eine Pioniertat für das Bauen in der Zukunft.“
Vier Musterhäuser werden hier in einer Forschungsarbeit erstellt, mit Materialien aus der Region, mit Handwerkstechniken aus dem Mittelalter und mit der Zielsetzung, ein umweltverträgliches Wohnen zu ermöglichen, wie Julian Schönberger erklärt. Dafür sammeln die Handwerker altes Wissen, um daraus zu lernen, ob und welche historische Bauweisen und Rohstoffe auf das moderne Bauwesen übertragen werden können.
„Wir fangen oft verrückte Sachen an“, sagen die drei Männer am Ende des Rundgangs. Sie leugnen nicht, dass sie schon Lehrgeld bezahlt haben. Aber sie sagen auch: „Was wir hier machen, das ist für alle relevant.“ Wer in Bärnau war, wird diese Worte auf jeden Fall unterstreichen.
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